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1 Die Tote vom Kreisky Boulevard

Aktualisiert: 15. Mai 2023

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Angenommen man würde im exakt richtigen Moment an dem exakt richtigen Ort sein, womöglich könnte man es verhindern. Wenn also das gesamte Universum einer geheimen Formel folgt, dann müsste es sich tatsächlich sogar berechnen lassen. Theoretisch. Leider kennt ja bekanntlich niemand diese Formel und folglich kann man sich im Grunde auch die Frage sparen. Deshalb scheint mir mein Berufsfeld einstweilen auch recht sicher zu sein.

Denn eines ist ganz klar: Es gibt immer jemanden der den ersten Stein wirft.

"Wer ist sie?"

Ich trete auf die Dame zu, die vor mir auf dem Pflaster ausgebreitet liegt.

"Laut ihrem Personalausweis, den sie bei sich getragen hat, ist ihr Name Sarah Liliac... Kohling."

Gibt mir Sean Barres, mein Kollege, sofort zurück.

"Herr Kant, das haben wir dort hinten gefunden, es wird wohl der Dame gehört haben."

Eine Ordnungswache tritt an mich heran und drückt mir ein Smartphone in einer Plastiktüte in die Hand, mit einem Versace Aufkleber auf der Rückseite.

"Nennen Sie mich voreingenommen, aber wenn sie keine Aradan ist, dann fresse ich einen Besen."

Ich nicke Barres knapp zu, nicht ohne den Blick von der Tüte zu nehmen.

"Da wäre ich dann ausnahmsweise mal Ihrer Meinung, Sean. Aber wir werden schlauer sein, sobald wir ihre Daten abgeglichen haben."

"Mir sagt 'Kohling' etwas, Ihnen nicht?"

Ich runzle die Stirn.

"Ja, ich kann es nur gerade überhaupt nicht zuordnen."

Ich zücke mein Smartphone und schlage direkt den Namen in der Datenbank der Ordnungsverwaltung nach.

"Sarah Liliac Kohling, geborene Sarah Liliac Wenger aus Eurom, VEU. Kohling, Kohling", ich suche weiter, nur nach dem Nachnamen, "Kohling Werner, gilt als Begründer der Dynastie, vor Ewigkeiten schon gestorben, der aktuelle Erbe ist Xavier Awesome Kohling, was für ein überheblicher Zweitname. Aber immerhin, er ist Mehrheitsinhaber und somit Hauptaktionär des größten Personentransportunternehmens von Falano, der 'Farlines'."

"Genau, ich wusste, der Name kommt mir bekannt vor. War das dann seine..."

"Gattin, ja."

"Sie liegt hier wie ein kalter Fisch auf dem Trockenen, mitten auf dem Pflaster, keine Frage, dennoch muss ich sagen, dass es wirklich ein Wahnsinn ist, was da heute antiageingmäßig schon möglich ist. Ich meine, schauen Sie sie an, er ist ja sicher Hundertzwanzig, mindestens, dann muss sie ja auch was in der Größenordnung sein."

"Vierunddreißig."

"Oh."

"Und sie war auch nicht seine einzige Ehefrau. Laut seinem Profil gibt es noch dreiundzwanzig weitere. Offenbar alle in ähnlichem Alter."

Sean bleibt der Mund offen stehen.

"Irgendetwas mach ich da also komplett verkehrt."

"Du hast einen Freund."

Sean zuckt mit den Schultern.

"Trotzdem."

"Begnüg dich mit ihm, kommt zumindest billiger."

"Das glauben Sie, ja?"

Ich ziehe mein kleines Notizbuch hervor und blättere die erste freie Seite auf. Dann schnappe ich mir den Bleistift aus meiner Tasche und beginne eine schnelle Skizze, um die Szene für mich so originalgetreu wie möglich festzuhalten.

Barres spricht unterdessen mit den anderen Ordnungswachen, die bereits die ganze Straße abgeriegelt haben. Ich fühle den Blick mit dem sie mich mustern. Ein Kommissar mit Stift und Papier, was will er damit? Hat er kein Smartphone? Ermitteln sie jetzt wie vor fünfhundert Jahren?

Falsch und falsch. Ein Foto mag das Offensichtliche perfekt ablichten, aber wie auch bei guter Literatur, muss man oft zwischen den Zeilen lesen können, um der Handlung wirklich und wahrhaftig folgen zu können.

"Haben Sie alles, Herr Kant?"

Ich setze die letzten Linien auf das Papier, blicke mich noch einmal um, versuche weitere Feinheiten der Szenerie zu erfühlen, aber das sollte es soweit gewesen sein.

"Ich denke schon, die Spurensicherung kann kommen und dann sollen sie den Leichnam direkt zur Pathologie bringen, wir müssen schauen, mit wem oder was wir es hier zu tun haben."

Mein Kollege veranlasst alles, während ich "Café" in die Suchleiste meines Smartphones klopfe. Sofort poppen mehrere Ergebnisse auf der Map auf, eines ganz in der Nähe.

"Können wir?"

Barres schaut zu mir und nickt zügig, dann löst er sich von der Ordnungswache und folgt mir die Straße hinunter bis zu dem Café an der Ecke. Wir treten ein und finden uns in einem nostalgischen Diner wieder, so wie sie schon vor hunderten von Jahren ausgesehen haben sollen, wenn man den alten Filmen Glauben schenken möchte. Rote mit Kunstleder bezogene Bänke, gebürstete Edelstahltische und jede Menge Blechelemente mit verschiedenen Aufdrucken an den Wänden.

Wir setzen uns und sofort eilt eine Dame in gelbem Kleid mit Schürze zu uns an den Tisch.

"Was darf ich den Herren bringen?"

Sean schnappt sich sofort die Karte und beginnt wie wild zu blättern.

"Einen doppelten Espresso, bitte. Mein Kollege braucht wohl noch ein bisschen."

Die Frau nickt.

"Ein doppelter Espresso, dann bring ich den mal und dann schaun wir weiter."

Damit wandert sie zurück zum Tresen und beginnt den Kaffee zu mahlen.

"Koffein wäre wahrscheinlich tatsächlich die beste Wahl", Sean gähnt, "Wie spät ist es eigentlich?"

Ich tippe mit einem Finger auf mein Smartphone.

"Kurz vor Fünf."

Barres wirft mir einen müden Blick zu.

"Dann wird's wohl ne Frenchpress werden und ordentlich Eier mit Speck, nochmal hinlegen zahlt sich jetzt ja nicht mehr wirklich aus."





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