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10 Immer tiefer in die Eingeweide

Aktualisiert: 10. Mai 2023

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„Erklären Sie mir doch noch einmal was wir hier auf einem Friedhof wollen?“

„Sie werden es dann schon sehen, Herr Barres. Oder auch nicht. Aber wir werden es nicht unversucht lassen.“

„Was unversucht lassen?“

„Folgen Sie mir einfach und versuchen Sie nicht so laut zu denken.“

Barres verzieht nur irritiert das Gesicht.

Wir betreten den Saint-Rousseau Friedhof und bahnen uns den Weg zum zentralen Mausoleum.

„Das wird zunehmend makabrer, das ist Ihnen schon klar, oder? Was machen Sie da?“

Ich rüttle an dem Eisengitter, hinter dem eine Treppe in die Eingeweide des Friedhofes hinunterführt.

„Wir müssen einen Weg hineinfinden.“

„Sie können doch nicht einfach so in eine Grabstätte einbrechen, das ist... unethisch.“

„Er war bekennender Agnostiker, wir tun ihm also einen Gefallen, wenn wir ihn aus einem ökumenischen Friedhof befreien, glauben Sie mir.“ Schließlich trete ich einen Schritt zurück, schlage mein Notizbuch auf und suche nach einer passenden Zeile.

„Was um alles in der Welt haben Sie vor? Zu wem wollen Sie? Und warum sollte jemand hier gefangen sein?“

„Das ist nur im übertragenen Sinne zu verstehen, Herr Barres. Das muss Ihnen doch klar sein. Wie soll man denn einen Geist einsperren?“

Barres blickt mich mit großen Augen an, während ich endlich die richtige Stelle gefunden habe.

„Nimtithi o noltor!“

Unter einem metallischen Quietschen wird das Gitter einfach zur Seite hin weggebogen und legt uns damit den Weg ins Innere frei.

„Also ich werde es zwar nie satt haben so etwas zu sehen, aber bevor ich einen Fuß in dieses wortwörtliche Grab setzte, noch einmal: Was wollen Sie dort unten?“

„Ich könnte es Ihnen natürlich erklären und dann würden Sie mich vermutlich für verrückt halten und einfach hier bleiben. Und wenn Sie mir nicht vertrauen, dann ist es natürlich Ihr gutes Recht hier oben zu bleiben, in jedem Fall. Allerdings wäre mir Ihre Anwesenheit recht angenehm, angesichts dieses eher tristen Abstiegs. Daher appelliere ich an Ihre gottgegebene Neugierde.“

„Das ist nicht fair, als hätte ich Sie je irgendwo stehen lassen, ich bitte Sie.“

„Folgen Sie mir einfach, dort unten liegt Ihre Antwort begraben, wortwörtlich.“

Ich muss kichern.

„Natürlich, der musste jetzt einfach kommen. Sie häufen ganz große Vertrauensvorschüsse an, ich hoffe das ist Ihnen klar, Herr Kant.“

„Es soll Ihnen vergolten werden, wenn Ihnen das mit dem Gitter schon gefallen hat.“

Wir machen uns an den steilen Abstieg, eines ist sofort klar, diese Gräber sind wahrhaftig nicht für die Lebenden gemacht.

„Elehi.“

Sofort erscheint ein kleiner Lichtkegel um uns und wirft unsere Schatten an die kalkigen Wände.

„Wie weit geht es noch nach unten?“

„El leami.“

Mein kleines Licht wird vor uns in die Tiefe getrieben, bis es schließlich einige Stufen weiter unten gegen eine Wand stößt und dort zum Stillstand kommt.

„Nicht mehr weit, Herr Barres.“

„Ich hoffe, dass es das wirklich wert ist, ich kann es überhaupt nicht oft genug betonen.“

„Das hoffe ich auch, glauben Sie mir.“

Schließlich erreichen wir den unteren Treppenabsatz, müssen einmal um eine breite Säule herum und finden uns letztlich in der Hauptgrabkammer wieder.

„Da sind wir nun also, in einer muffigen, grenzwertig belüfteten, zu einer Grabkammer zweckentfremdeten stillgelegten Silikatmine. Wenn wir hier unten ersticken, dann mache ich Sie dafür verantwortlich.“

„Nur, dass Ihnen das dann vermutlich nicht mehr allzu viel nutzen wird, besser Sie helfen mir bei der Suche nach dem richtigen Sarkophag.“

„Dann müssen Sie mir aber langsam erläutern, wen genau Sie hier suchen.“

„Merakor Polymeropulos, ehemaliger Professor an der Walaux Akademie. Er galt angeblich als Koryphäe für Dämonologie und Exorzismen.“

„Was?“

„Merakor Polymeropulos, muss ich mich wirklich komplett wiederholen?“

„Lassen Sie ruhig, ich muss mir das Fragen einfach langsam abgewöhnen.“

Ich trete an den ersten Sarkophag heran und inspiziere die Inschrift. Kein Polymeropulos. Dann den nächsten. Wieder nicht. Schließlich höre ich Barres hinter mit laut aufatmen.

„Haben Sie ihn?“

„Ich schätze mal.“

„Was soll das heißen? Entweder Sie haben ihn oder Sie haben ihn nicht.“

„Kommen Sie einfach herüber und sehen Sie sich das selber an.“

Barres steht vor einem pechschwarzen Sarkophag, der von vier Totenschädeln getragen wird und nur vom Siegel der Walaux und einer welken Lilie geziert wird.

„Da steht kein Name?“

„Ich kann zumindest keinen finden.“

„Das kann nicht sein, es gibt keine namenlosen Toten in einem Mausoleum, dafür zahlt man ja schließlich auch.“

„Außer derjenige wollte explizit ohne jede Zuordenbarkeit unter die Erde gelegt werden.“

„Sie sind ein Genie, Herr Barres, denn wer sollte größeres Interesse an einer anonymen Beisetzung gehabt haben, als der größte Exorzist seiner Zeit. Um sich vor den dämonischen Eindringlingen zu schützen und nicht von ihnen in die Hölle gezerrt werden zu können.“

„Joa, ich bin da zwar nicht so sattelfest in diesem Gebiet, aber hört sich schon schlüssig an für mich.“

„Und deshalb bin ich froh, dass Sie mitgekommen sind.“

„Als hätte ich Sie jemals im Stich gelassen, kommen Sie. Also, was jetzt?“

„Wir sollten ihn öffnen, schätze ich.“

„Was? Sie ‚schätzen‘?“

„Ja, ich denke um seinen Geist beschwören zu können, wäre es sicher nicht unförderlich, wenn wir seinen Leichnam fürs Erste mal freilegen.“

Sean weicht jede Farbe aus dem Gesicht.

„Okay, das ist krank.“

„Och, jetzt wollen Sie mich aber auf den Arm nehmen. Aus welchem absurden Grund sonst hätten wir wohl hier nach unten steigen sollen? Ich bitte Sie.“

„Es tut mir leid, dass das für Ihren verschrobenen Geist scheinbar der einzig mögliche Rückschluss ist, aber für mich ist das absurd, okay? So wurde ich nicht erzogen. Sie können doch nicht von mir erwarten, dass mich so etwas komplett unberührt lässt, ja das ich es gar befürworte.“

„Davon redet ja auch niemand, aber ich brauche zumindest Ihre Hilfe bei dem Deckel. Dann laufen Sie von mir aus zurück nach oben und tun wozu auch immer Sie scheinbar glauben erzogen worden zu sein.“

Sean verharrt kurz regungslos im Raum und blickt bedrückt durch die Kammer.

„Es gibt wohl sowieso keinen Weg zurück oder?“

„Wenn wir immer einen Schritt zurück gingen, dann würden wir irgendwann, mit dem Rücken an der Wand, wieder ganz am Anfang stehen.“

„Sehr weise, Herr Kant, wirklich.“

„Also? Helfen Sie mir? Ich verspreche Ihnen, nach christlichem Glauben ist das kein Grund für die Hölle, was allerdings die Sache mit Wai angeht, da ist der Zug wohl eher generell schon abgefahren. Also wozu noch nach den Regeln spielen, wenn man schon längst im Out steht?“

Sean blickt kurz schweigend zu Boden.

„Dann lassen Sie uns das ganze schnell hinter uns bringen.“

Ich nicke ihm zu und wir beginnen den schweren Steindeckel zur Seite hin wegzuschieben.

„Sie sind ein guter Redner, Herr Kant. Haben Sie eigentlich nie erwogen in die Politik zu gehen?“

Der Deckel kracht unter einem lauten Donnern zu Boden.

„Sollte ich das je erwägen, dann bitte töten Sie mich. Denn dann hat mich der Dämon ohne jeden Zweifel zuerst gefunden.“

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